Ist es undemokratisch, wenn die AfD nicht regiert?
7 konkrete Punkte, die euch für Diskussionen helfen.
Hallo und herzlich Willkommen zur neuen Folge Adé AfD,
ich wurde letztens in einer Diskussion gefragt: Ist es nicht undemokratisch , wenn die AfD in Thüringen nicht an der Regierung beteiligt würde?
Das Argument:
Die AfD ist in Thüringen stärkste Kraft, in Sachsen hat sie die zweitmeisten Stimmen (die Wahl in Brandenburg folgt dann am 22.9.) erhalten. Die Partei selbst und deren Wähler_innen finden es "undemokratisch", dass die anderen Parteien nicht mit der AfD koalieren wollen.
Und weil mich das sehr beschäftigt hat, habe ich für euch die Fakten und Überlegungen einmal zusammengetragen - damit wir sie alle für Diskussionen nutzen können.
Für die, die neu dazugestossen sind und für uns alle als kleiner reminder: Dass wir mit reinen Fakten keine Diskussion gewinnen, habe ich in verschiedenen Folgen immer wieder aufgegriffen. Einige Tipps, wie wir ohne reines Argumente-Ping Pong besonnener debattieren können, findet ihr zum Beispiel in diesen Adé AfD-Folgen:
👉 Meine Frage für diesen Newsletter:
Ist es undemokratisch, wenn die AfD nicht an der Regierung beteiligt ist?
Legen wir los:
1. Es geht nicht um die stärkste Kraft, sondern um die Mehrheit.
“Demokratietheoretisch ist die stärkste Kraft praktisch nichts wert, so hart das klingt. (..) Es mag schon sein, dass die Wähler die stärkste Partei in der Regierung sehen möchten. Das ist aber ein Missverständnis. In einer Demokratie geht es darum, Mehrheiten zu bilden. Das gelingt einer Partei entweder dadurch, dass sie die absolute Mehrheit der Stimmen beziehungsweise Mandate einfährt. Oder durch die Zusammenarbeit mit anderen Parteien. Beides schafft die AfD nicht. Alle anderen Parteien haben eine Koalition mit der Rechtsaußen-Partei ausgeschlossen (…)” erklärt Politologe Christian Stecker im Focus Online-Interview.
Fakt ist: Die AfD hat keine absolute Mehrheit erreicht. In einer parlamentarischen Demokratie muss eine Regierung von der Mehrheit im Parlament unterstützt werden. Entscheidend ist, wer die Mehrheit bei der Gesetzgebung im Parlament stellt, also mehr als die Hälfte der Abgeordneten hinter sich versammelt - nicht, wer die meisten Stimmen bei der Wahl bekommt.
Worum es geht: regierungs- und mehrheitsfähig zu sein. "Wenn die anderen Fraktionen im Parlament eine Mehrheit bilden, bilden sie den Willen der Mehrheit der Wähler ab", fasst es Uwe Jun, Politik-Professor an der Uni Trier, gegenüber BR24 zusammen.
2. Wähler_innen wählen die Zusammensetzung des Parlaments, nicht die Regierung.
Der Politikwissenschaftler Benjamin Höhne von der TU Chemnitz sagt im Interview mit dem WDR: "Es ist mitnichten so, dass die Partei, die die meisten Stimmen hat, ein Anrecht hat, den Regierungschef zu stellen."
Ergo: Ein Drittel ist zwar viel, aber es gibt kein Anrecht auf eine Regierungsbildung.
3. Thüringen ist kein Einzelfall.
Die stärkste Fraktion stellt nicht automatisch die Regierung – das ist rechtlich so nicht vorgeschrieben. Eine Koalition ohne den Wahlsieger ist nicht unnormal im bundesdeutschen System.
Auf Bundesebene stellte die SPD zum Beispiel von 1969 bis 1982 den Kanzler, obwohl die Union teilweise besser abschnitt. In Thüringen bildeten 2014 die Linke, SPD und Grüne eine Koalition, obwohl die CDU die meisten Stimmen erhielt. Bodo Ramelow (Linke) löste daraufhin Christine Lieberknecht (CDU) als Ministerpräsident ab. (Quelle siehe auch: MDR)
Eine gute historische Auflistung, welche Fälle es in der bundesdeutschen Geschichte gab, findet ihr in diesem MDR-Artikel.
Und: Laut einer Analyse des Politikwissenschaftlers Christian Stecker wurde in Deutschland seit 1949 bei etwa jeder zehnten Wahl die stimmenstärkste Partei nicht an der Regierung beteiligt. Diese Info findet ihr hier. (Quelle: MDR und BR)
4. Der Wähler_innenwille bliebe auch so gewahrt.
Etwa 70 Prozent der Wähler_innen haben nicht für die AfD gestimmt. Eine Regierung ohne die AfD kann also den Willen der Mehrheit repräsentieren. Wenn sich in Thüringen beispielsweise CDU, SPD, das "Bündnis Sahra Wagenknecht" und "Die Linke" zusammenschließen würde, würden sie mehr Menschen vertreten als die AfD.
“Demokratie heißt ja nicht "Ich will", sondern Demokratie heißt auch, was andere wollen, müssen und dürfen ist auch zu berücksichtigen. Und wenn man diese wechselseitige Perspektive außer Acht lässt, dann hat das sehr wenig mit Demokratie zu tun, sondern man könnte fast von der Tyrannei der Minderheit sprechen,” sagt Politikwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Schörder vom Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung in Berlin im Interview mit dem MDR (das ich euch in voller Länge sehr ans Herz lege).
5. In Deutschland herrscht Koalitionsfreiheit:
In einer Demokratie haben Parteien das Recht, frei zu entscheiden, mit wem sie koalieren möchten. Eine Verweigerung der Zusammenarbeit mit der AfD ist Teil dieses demokratischen Prinzips.
Ebenso gilt für die AfD: Um mehrheitsfähig zu sein, muss die Koalitionspartner finden. “Wenn sie die findet, dann kann sie auch eine Regierung bilden. Und solange sie die nicht findet, ist sie Teil der Opposition und damit auch Teil des wettbewerblichen Systems, das diese Demokratie prägt”, erklärt Prof. Dr. Wolfgang Schröder im Interview mit dem MDR.
Wer sich übrigens live einmal anschauen möchte, wie man diese Punkte journalistisch sehr klar aufgreifen und betonen kann, wird zum Beispiel in diesem ZDF-Interview mit Alice Weidel fündig:
Hier wird deren Argument des Wählerwillens eingeordnet, und zwar mit Hinweis darauf, dass es dafür in einer parlamentarischen Demokratie Mehrheiten braucht, und dass für diese Mehrheit auch ein Zugehen auf andere Parteien notwendig ist (z. Bsp. ab Minute 1:20).
Apropos Opposition:
6. Die AfD bleibt so oder so Teil des parlamentarischen Prozesses.
Die Partei hat in Thüringen mehr als ein Drittel der Landtagssitze gewonnen und erhält dadurch aufgrund der sogenannten Sperrminorität bestimmte parlamentarische Rechte.
Die anderen Parteien müssen sich also jetzt zum Beispiel damit auseinandersetzen, dass bestimmte Vorgehen, wie Verfassungsänderungen und die Wahl von Verfassungsrichtern, ohne die AfD nicht mehr möglich sind.
Mehr zur Sperrminorität am Beispiel Thüringen findet ihr in dieser Folge:
Die AfD kann somit ihre Rolle als Opposition wahrnehmen, was wiederum den demokratischen Pluralismus sichert. Auch das gehört zur Demokratie.
Dementsprechend wird die AfD nicht benachteiligt: “Die Beteiligung im parlamentarischen Prozess wird der AfD – solange sie nicht verboten ist – nicht in Abrede gestellt. Und die AfD wird ja auch in der öffentlichen Kommunikation so stark berücksichtigt wie eigentlich keine andere Partei. Sofern gibt's hier, soweit ich das aus einer empirischen Perspektive sehe, keine Benachteiligung, sondern aufgrund ihrer Aufmerksamkeitsstrategie eher eine Privilegierung der AfD. Es wird über keine andere Partei so intensiv gesprochen.” Das sagt Prof. Dr. Schröder im Interview mit dem MDR.
7. Die Radikalisierung der AfD verhindert eine Zusammenarbeit.
“Natürlich habe die AfD eine Legitimation von einem Drittel der Wähler erhalten”, sagt Politikwissenschaftler Thorsten Faas von der FU Berlin im Interview mit dem WDR. “"Nur braucht Demokratie auch bestimmte Spielregeln. Und das ist die große Sorge, wenn es um die Beteiligung extremer, rechtspopulistischer, rechtsextremer Parteien geht, dass die anfangen, an den Spielregeln zu drehen." Das bedeute eine Gefahr für die Demokratie und ihren Aufbau.” (Quelle: WDR)
Reminder: Sowohl in Sachsen als auch in Thüringen wird die AfD vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft. Die Ablehnung einer Zusammenarbeit basiert also auch auf der Verteidigung demokratischer Grundwerte gegen extremistische Positionen.
Dazu kommt: Eine Nachwahlbefragung von Infratest Dimap hat aufgezeigt, dass eine Mehrheit der Menschen in Thüringen eine Beteiligung der AfD an der nächsten Landesregierung ablehnt. Auch dieser Wähler_innenwille muss bedacht werden. (Quelle z. Bsp.: Tagesschau.de)
Keine Koalition mit der AfD einzugehen ist nicht undemokratisch.
Das ist in keiner Weise undemokratisch, sondern es ist zutiefst demokratisch. Denn Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Akteure einander anerkennen und sich positiv aufeinander beziehen, um durch Beteiligung und Kompromissfähigkeit zu einer gemeinsamen Gestaltungsfähigkeit zu kommen. Und dafür braucht man Partner. Und wenn man in der eigenen, programmatisch personellen Aufstellung so unverträglich ist, dass sich keine Partner finden, dann kann man auch 48 Prozent haben und wird nicht zum Zuge kommen.
(Politikwissenschaftler Prof. Dr. Schröder im Interview mit dem MDR.)
🙋🏼♀️ Franzi als Politik- und Kommunikationsberaterin buchen:
Zum Beispiel für:
Strategien zur Positionierung und im Umgang mit gesellschaftspolitischen Themen: Ich entwickle politische Kommunikation für Führungskräfte in Unternehmen, Verbänden, NGOs (z.B. zu Themen wie Rechtsextremismus oder Bundestagswahl 2025).
Workshops & Formate: Kommunikation, Demokratie am Arbeitsplatz, Social Media-Strategie und Rhetorik (z.B. Umgang mit Populismus).
Kommunikation & KI: Einsatz in politischer Kommunikation (z.B. in Pressestellen, im Wahlkampf), gegen Desinformation, Hatespeech & die AfD.
Keynotes, Vorträge und Panels zu Kommunikation, Demokratie, Populismus oder KI.
Mehr zu mir findet ihr hier.
📲 Folgt mir gerne auf Instagram oder LinkedIn.
📖 Mein Sachbuch “Anleitung zum Widerspruch” liefert klare Antworten auf Parolen, Vorurteile und Verschwörungstheorien. Das Buch erklärt dir, was du sagen kannst, wenn du schlicht nicht weiter weißt und dich sprachlos fühlst. Zum Beispiel: Was sage ich bei rassistischen Sprüchen, wie reagiere ich auf Antisemitismus und kann ich lernen besser zu streiten (Spoiler: Ja!)?
Am allerbestesten fasst dieses Thema der MDR bzw. Dr. Wolfgang Schroeder zusammen:
https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/afd-keine-regierungsbeteiligung-koalition-undemokratisch-interview-schroeder-100.html
Die Kernaussagen, die als "too true" hängen geblieben sind:
- Demokratie ist nicht der Wille des Stärkeren, sondern – solange es eben keine absolute Mehrheit gibt – nunmal das abwägen zwischen den Interessen vieler (Koalitionsbildung)
- diesem Gesetz muss sich auch derjenige unterwerfen, der die meisten Stimmen hat
- genau das macht die AfD eben nicht – bzw. zumindest agieren sie so, dass die potentiellen Partner explzit nicht mit ihnen zusammenarbeiten wollen - und damit disqualifiziert sich die AfD in einem pluralistischen System wunderbar selbst
Große Leseempfehlung für alle, denen Demokratie und Pluralismus ein hohes Gut ist. Und die der AfD und ihrem Demokratie-"verständnis" gern mit dem Regelwerk begegnen wollen, nachdem wir alle in einer pluralistischen Gesellschaft zu spielen haben. Und es ja auch tun.
https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/afd-keine-regierungsbeteiligung-koalition-undemokratisch-interview-schroeder-100.html
(Und danke @MDR für diesen wirklich großartigen Artikel ❤️)